Seine Kollegen denken wohl noch immer, dass er einfach zu viel Zeit habe, meint Christian Lindner bei der Vortragsreihe “Das Leben im Netz” an der Uni Mainz. Christian Lindner ist Chefredakteur der Rhein-Zeitung und spricht im Rahmen seines Vortrags über “Das Schweizer Messer Web 2.0 – Die vielfältigen Effekte von Twitter bei der Rhein-Zeitung”. Er ist seit dem 23.01.2009 als @RZChefredakteur auf Twitter unterwegs und zählt damit bis heute zu den wenigen Chefredakteuren, die selbst twittern.
Warum er damit angefangen hat? Twitter ist seiner Meinung nach das optimale Medium für Journalisten. Schließlich sind diese gewohnt sich kurz und prägnant auszudrücken, dadurch ist die Zeichenbeschränkung für ihn kein Problem: “Ein erfahrener Journalist empfindet 140 Zeichen geradezu als komfortabel.” Inzwischen hat seine Rhein-Zeitung über 30 redaktionelle Twitter-Accounts, die insgesamt auf über 12.000 Follower kommen (Man darf von einigen Doppel-Followings ausgehen))
Der @RZChefredakteur beim Twittern. Foto von Senad Palic, geschossen an einem der Followerabende.
Doch die Follower folgen nicht nur, sondern interagieren mit dem Medium. Christian Lindners Credo lautet nämlich: Persönlich twittern! Automatisierte Nachrichtenfeeds, wie sie bei den meisten Nachrichtenseiten noch State of the Art sind, kommen bei ihm nicht in Frage. Durch diese Ansprechbarkeit der einzelnen Autoren, Ressorts, und Regionalredaktionen ist es auch möglich, dass die Leser eigene Themen und Hinweise weiterleiten.
Lindner zählt auf: Unfälle, Einbrüche oder seltsame Unternehmenspleiten, auf viele Themen haben die die engagierten Follower hingewiesen und irgendwann verliert man den Glauben hier nur geschönte Einzelfälle präsentiert zu bekommen. Mehrere Hinweise am Tag bekäme die Rhein-Zeitung inzwischen, erzählt Lindner, und dabei ginge es keineswegs nur um triviale Geschichten. Auch der ein oder andere Tipp aus großen regionalen Unternehmen und der Hinweis auf ein politisches Skandälchen auf Landesebene soll schon dabei gewesen sein. Whistleblowing via Twitter.
Erstaunlich ist, dass hierbei nicht einmal auf Anonymität Wert gelegt wird, sondern diese Hinweise von personalisierten Accounts kommen.
Die Erklärung findet Lindner leicht: Über Twitter geht der Kontakt schnell und einfach und die Leute haben Vertrauen zur Marke Rhein-Zeitung.
Vor allem Menschen und Themen die man sonst nicht erreicht hätte würde die Rhein-Zeitung jetzt stärker ansprechen. Das Image der sonst als recht verstaubt geltenden Lokalzeitung profitiert. Die Abonnenten der Printzeitung sind im Schnitt 51 Jahre, 46% über 50. Für eine Lokalzeitung normal, aber die Auflage schwindet. Noch seien die Zahlen zwar stabil, aber Lindner glaubt an ein weiteres Abnehmen der Abonnentenzahlen. Eines seiner Instrumente dagegen ist Twitter, hier erreicht die Zeitung jüngere Menschen und ein, der Zeitung sonst eher fernes, Klientel. Von dem bisherigen Erfolg dieses Weges zeugen zwar noch keine Eindeutigen Zahlen, aber einige Tweets:
Umgekehrt ist der Rhein-Zeitung aber auch daran gelegen den eigenen Lesern Twitter näher zu bringen. So promotet die RZ, die eigenen Twitter-Accounts recht prominent auf der eigenen Seite übersichtlich aufgeteilt nach Region und Ressort. Und um Neu-Twitterern über Startschwierigkeiten hinwegzuhelfen, empfehlen sie auch gleich lesenswerte Twitterer aus der Region und haben das Projekt der „Twitterpaten“ ins Leben gerufen. Die Twitterpaten sollen Neulinge beim Microbloggingdienst ansprechen und etwas an die Hand zu nehmen. Außerdem veranstaltet die Rhein-Zeitung ab-und-zu Followerabend, bei denen einige Follower in die Redaktion eingeladen und herumgeführt werden.
Fassen wir also zusammen, welche Vorteile hat die Rhein-Zeitung von Twitter:
- Image-Gewinn gerade bei Jüngeren
- Steigerung der Reichweite (bei einer Webevangelisten-Untersuchung landete die RZ noch vor der Tagesschau)
- Verstärkung der Blatt – Leserbindung
- Kontakt zu den Lesern
- Besseres Bild der eigenen Leser
- Verfügbarkeit des Wissens vieler, Stichwort Crowdsourcing. So fragt die RZ bei bestimmten Themen immer mal wieder die Follower nach Mithilfe. Zum Beispiel bei der Frage nach besonders kaputten Straßen oder den schönsten Schneebildern.
- Ehrliche Kritik und direktes Feedback, sowie Fehlerhinweise.
- Hinweise auf lokale Themen, die der Zeitung sonst vielleicht entgangen wären.
Das sind sicher keine neuen Erkenntnisse, und mit etwas gesundem Menschenverstand hätte man darauf auch von selbst kommen können, aber die Rhein-Zeitung tritt eben den Beweis an, dass all die schlauen Tipps der zahlreichen Social-Media Berater ab und zu ein Funken Wahrheit enthalten.
Wie hat die Rhein-Zeitung das geschafft?
Christian Lindner hat dafür eine klare Erklärung: Für ihn mitentscheidend war, dass er eben nicht zur Technikabteilung gegangen ist und gesagt hat:“Macht mal was mit diesem Twitter.“, sondern er als Chef selbst angefangen hat zu twittern und es so in die Redaktion hineingetragen hat. Bei der Rhein-Zeitung twittern alle Redaktionsabteilungen selbst. Auf die Frage, wie denn die alt eingesessenen Redakteure auf die neue Aufgabe im Redaktionsalltag reagiert haben, sagte er, dass man niemanden zum twittern gezwungen habe, man habe Ihnen das Werkzeug an die Hand gegeben und gesagt mach mal und wenn auffiel, dass jemand sich zurück hielt, wurde angesprochen, wo die Probleme liegen. Bei den neu angekommenen Volontären besteht der Chef allerdings auf die Verwendung der Sozialen Dienste. Schließlich nutzen die Meisten Twitter & Facebook privat und können das selbstverstädnlich auch gewinnbringend in die Redaktion einbringen.
Ob diesem Beispiel weitere Zeitungen folgen werden? Lindner glaubt schon, vor allem um zukünftige Leser zu erreichen, über welchen Verbreitungskanal auch immer diese dann die Zeitung konsumieren.