Porno ist Mainstream, Porno ist Alltag, Porno ist Popkultur. Ja, Porno ist allgegenwärtig geworden, frei- und jederzeit verfügbar. Auch ist er raus aus seiner Schmuddelecke gekommen rein ins Gespräch, Zitate wie „Warum liegt hier eigentlich Stroh?“ sind jedem bekannt und zum Running Gag geworden. Posen und Rollenbilder aus Pronofilmen finden Eingang in die Werbung. Welche Auswirkungen das auf unseren Sex hat? Die Wissenschaftler streiten. Schneller ist das die Kunst. Sandra Torralba hat in ihrer Fotostrecke „Estranged Sex“ dargestellt was passiert, wenn all diese Sexspielzeuge, Posen und Fantasien tatsächlich in den Alltag einziehen. In die langweiligen Wohnzimmer und in die zu kleingewordenen Kinderzimmer. Und wie allgegenwärtig sie dort andereseits schon sind.
Ratlos sitzen die Teenager da auf dem Bett mit einem viel zu großen Stück Gemüse in der Hand und einer Tonne Gleitgel daneben und desillusioniert schaut die andere Frau umringt von all den nackten Männern. Vorbei mit Hochglanz.
Die Diashow kann man sich hier angucken. Es sei vorgewarnt, es geht um Pornografie, entsprechend ist einiges, was man da sieht erst ab 18.
Im Zuge der Veröffentlichung des vor kurzem erschienenen „Deutschlands Vergessene Kinder“-Samplers brachten die Mitarbeiter der Arche zwei Bücher heraus, das gleichnamige „Deutschlands Vergessene Kinder“ als auch „Deutschlands Sexuelle Tragödie“. Letzteres lag Freitag letzter Woche in meinem Briefkasten.
Das Buch gliedert sich in viele 3-bis-5-seitige Geschichten über die Einzelschicksale von vielen der Kinder, die die Mitarbeiter der Arche im Laufe ihrer Arbeit dort kennen gelernt haben, dazu gesellen sich zusammenfassende Erkenntnisse und Anmerkungen der Autoren zu jeweils einem Bündel von Geschichten. Schon im Vorwort wird deutlich, was das Hauptanliegen der Autoren bei der Veröffentlichung war:
Die Problematik nicht länger totzuschweigen.
„Das einstige Tabu, mit dem das Thema Sexualität behaftet war, ist längst dem Tabu gewichen, über die Folgen der sexuellen Freizügigkeit zu sprechen. Dass es Sexsucht, Pornografiesucht und extreme sexuelle Verwahrlosung gibt, wird nur selten thematisiert.“
– Thomas Schirrmacher im Vorwort
Als Schwerpunkt für die Lösung kristallisieren sich recht schnell die Knackpunkte heraus. Die Eltern (,wenn man denn davon sprechen kann, da in den meisten Fällen nur eine Mutter im Umfeld des Kindes anwesend ist,) und deren Umgang mit Sexualität, quasi die durch das Vorbild der Eltern erlebte Wertevermittlung. So ist es in den beschriebenen Familien keine Seltenheit, dass Kinder gemeinsam mit den Eltern Pornos schauen oder ihnen direkt beim Sex zuschauen, oder andersrum: die Eltern gerne mal ins Zimmer kommen, wenn der Sohn gerade aktiv ist. In ganz prekären Fällen schläft auch die Mutter mit den Freunden der Tochter und zwingt die Tochter zu einem Dreier mit dem Stiefvater.
„Ist doch was ganz natürliches, ist doch nur Sex“ ist dann meistens die Begründung. Dass die frühe Konfrontation mit diesem Thema oft die Kinder für das ganze Leben schädigt, ist keinem Elternteil bewusst. Der vorgelebte Lebensstil vermittelt keinerlei Zusammenhang zwischen Liebe und Sex, Kinder sehen ständig ihre Mutter den Partner wechseln und leben es nach, investieren gar keine Kraft in den Versuch, eine Beziehung lange aufrecht zu erhalten.
Viele Kinder erfahren zu Hause eine emotionale Distanz, da die Mutter genug mit ihren eigenen Probleme zu tun hat, und sehen Sex als eine Art Hochleistungssport, wo man sich mit geringem Einsatz schnell Anerkennung holen kann. Nicht selten wissen schon 15-Jährige nicht mehr, mit wie vielen Leuten sie schon im Bett waren, aber prahlen dafür gerne damit, was sie im Bett so „drauf haben“. Und wenn eine 14-Jährige auf einer Klassenfahrt 4 Jungs nacheinander in einem Zimmer oral befriedigt, ein Junge dann mehr will und sie daraufhin vergewaltigt, während die anderen 3 ihn anfeuern – und der Lehrer dann noch sowas wie „Wie kannst du denn sagen, dass du das nicht wolltest, wo du vorher gleich mit vier Jungs im Bett warst“ erwidert – dann weiß man irgendwie schon gar nicht, was jetzt das krasseste an dieser Geschichte ist.
Nun könnte man natürlich meinen, dass diese Entwicklung nur eine kleine Gruppe der Gesellschaft betrifft, die zudem dem so genannten Prekariat zuzuordnen ist. Doch es finden sich auch Kinder im Buch, deren Eltern Lehrer oder Polizisten, also im weitesten Sinne Beamte sind. Eine Journalistin trug an einen der Autoren die Frage heran, ob denn diese Schicht nicht für immer unter sich bleiben würde und diese Dynastien nicht geschlossene Kreise wären – also im Prinzip ja für die Gesellschaft keine Gefahr bestünde – woraufhin dieser ganz entsetzt reagierte.
Natürlich ist es ein Fakt, dass der Großteil dieser sexuellen Verwahrlosung Menschen aus oder in sozialen Brennpunkten betrifft und die gesellschaftliche Oberschicht seltener davon betroffen ist. Ein ebenso wichtiger Fakt ist allerdings, dass gerade diese Oberschicht viel seltener und weniger Kinder bekommt als die von der Journalistin angesprochene Unterschicht. Denn Verhütung spielt bei guten 95% der Kinder in der Arche gar keine Rolle, weder wegen Schwangerschaft, noch wegen Geschlechtskrankheiten. Überträgt man die Aussagen der Kinder mal auf das ganze Land, müssten 80% der Deutschen eine Latexallergie haben und könnten deshalb ja leider keine Kondome benutzen.
Doch das Buch ist kein einzig großer Klagebericht. Neben den bereits angesprochenen Kommentarseiten der Autoren, die die Probleme nochmal auflisten und aufzeigen, wie man diese umgeht, finden sich in diesem Buch auch zwei-drei Kinder, denen der Weg aus dieser verwahrlosten Lage gelungen ist. Wichtig dafür war in erster Linie, dass die Kinder es selber wollen; dass ihnen bewusst wird, dass in ihrem Leben was schief läuft und dass die Realität, die sie erleben, keineswegs Normalität bedeutet. Dafür stehen vor allem Bildung und Aufklärung im Fokus, ferner das Erlernen des richtigen und reflektierten Umgangs mit Medien und das hautnahe Erleben von Vorbildern anhand der Eltern.
„Apples“ heißt der Erstling des 1984 geborenen Briten Richard Milward, der in diesen Tagen in deutscher Übersetzung im Blumenbar Verlag erscheint. Aufgewachsen in Middlesbrough, verlagert der Autor die Handlung des Buches in eben diese Stadt und gibt dem Leser einen unbeschönigten Eindruck davon, wie es ist, dort seine Jugend zu verbringen. Partys, Drogenexzesse und Sex dominieren das Leben der Teenager.
Nicht ohne Grund wurden die Hauptfiguren von „Apples“ auf die Namen Adam und Eve getauft. Die Rollenverteilung steht der in der Bibel in nichts nach – Adam ist der nette Typ von nebenan, Eve hingegen wird von der Sünde nahezu angezogen. Während Adam von seinem Vater beim Wichsen auf dem Dachboden erwischt wird, ist Eve schon längst zu der Erkenntnis gekommen, dass Jungs einen eher lecken, wenn man den Intimbereich rasiert hat – gegensätzlicher könnte es kaum sein.
So weit, so gut. Wünschenswert wäre es natürlich, wenn Adam seinen Schwarm Eve aus dieser Welt rausholen könnte, doch da das Leben kein Ponyhof ist, ist genau das Gegenteil der Fall – langsam, aber sicher erhält Adam Einzug in die Partywelt. Ob er dadurch an Eve heran kommt, verrate ich nicht, nur so viel: Ein Walt-Disney-Happy-End sieht jedenfalls anders aus.
Während OPT-Leser sich hoffentlich eher mit Adam identifizieren, sei noch gesagt – das Buch ist aus wechselnden Perspektiven geschrieben. Meist informieren Eve und Adam aus der Ich-Perspektive über das Geschehen – wobei sich schon deutliche Unterschiede ausmachen lassen – aber auch anwesende Schmetterlinge, Straßenlaternen und Mitschüler kommen ab und zu zu Wort. Das ist natürlich insofern interessant, als dass man auch mal sehen kann, wie die Anderen so denken, statt nur in seiner eigenen Gedankenwelt zu verharren.
Warum will Claire mit dem Typen zusammen sein, der sie auf der Party, während sie ohnmächtig war, vergewaltigt hat? Weiß sie das denn nicht, dass er das war? Doch, sie weiß es. Aber aus der Perspektive des Mädchens macht es plötzlich Sinn.
Diese Woche waren Ferien […] und der einzige Junge, der sich blicken ließ, war Clinton; […] er hatte die Angewohnheit, einen zu vergewaltigen, aber er war meine einzige Chance auf eine ernsthafte Beziehung.
Na, da sieht man das doch gleich mit ganz anderen Augen und findet die Entscheidung nachvollziebar, oder?
Auch Eve hat ihre ganz eigene Sicht der Dinge, was Jungs angeht.
Jungs waren wie Hunde. Alle wollten sie ihre dicken, triefenden Schwänze in einen reinstecken, einen danach nie wiedersehen und es dann bei der Nächsten versuchen. Mädchen waren dagegen viel anspruchsvoller und reifer, also liefen Debbie und ich Arm in Arm los, um uns weiter zu besaufen.
Weibliche Logik ist eigentlich vollkommen simpel, oder? Hat auch einige Schwänze gedauert, bis Eve das rausgefunden hat. Andererseits ist es ihr dann aber auch nicht recht, wenn er am nächsten Morgen noch was von ihr wissen will.
Sein Schwanz war schlaff von den Poppers. Wir blieben bis acht oder neun im Bett, uns dröhnten die Köpfe als hätte jemand einen Eimer drübergestülpt. Ich zog meine Calvin-Klein-Unterhose an und ging ins Bad. Er wollte natürlich, dass ich zurück ins Bett kam, aber ich war zu fertig, und morgens fand ich Anfassen immer eher unangenehm. Mein Hirn war wie weggeblasen. Ich macht mich kurz frisch, dann brachte er mich zur Bushaltestelle, und ich musste ihm einen Abschiedskuss geben, aber es war mir egal, ob er mich anrufen würde. Unser Atem roch süßlich wie ein Müllwagen.
Abschließend noch ein paar Worte vom Autor:
Als ich 15 Jahre alt war, schien das ein wirklich seltsames Alter zu sein, in dem Mädchen plötzlich zu Frauen heranreiften, während Jungs immer noch eher zuhause blieben und Computer oder Fußball spielten, ein gewaltiger Abstand also. Die einzige Chance für mich, auszugehen und zu trinken war damals also, mit Mädchen unterwegs zu sein. Ich glaube, es ist generell ein Albtraum, auf der ganzen Welt, aber besonders in Nordengland, wie extrem Mädchen von Jungs belästigt werden, und damals habe ich wirklich eine starke Empathie entwickelt, ich habe großen Respekt vor Mädchen bekommen, und ich konnte die Dinge viel mehr aus ihrer Perspektive sehen, anstatt einfach nur zu versuchen, sie ins Bett zu kriegen. Deshalb habe ich, glaub ich, das Buch geschrieben.