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Von Acta bis Zensursula – wie berechtigt ist die neue Macht der Netzaktivisten?

Das Netz 2.0 und was es mit sich bringt: In der aktuellen Ausgabe der ZEIT (10/2012) kritisiert der Journalist Heinrich Wefing in seinem Artikel „Wir! Sind! Wütend!“ die neue Macht von Netzaktivisten, die es immer wieder schaffen, für Unruhen in der Politik zu sorgen. Der Ton sei zu grob, die Energie komme hauptsächlich von wütenden Bloggern, die Angst schüren und Shitstorms verursachen. Themen, über die sich die Netzgemeinde brüskiert, seien obskur. Wie berechtigt ist diese Macht? „Netz-Utopiker“, meint Wefing. Ein Widerspruch

 

„Zensursula“, Nestlé und die ING-Diba, Guttenberg, Wulff, Sopa, Pipa und nun Acta: Sie alle haben gemeinsam, ausführlich zum Thema einer immer größeren Netzgemeinde geworden zu sein, was für jeden von ihnen deutliche Folgen hatte. Ursula von der Leyens geplantes Zugangserschwerungsgesetz zu Kinderpornographie wurde auf öffentlichen Druck hin vom Bundestag wieder gekippt, Karl-Theodor zu Guttenberg ist seinen Doktortitel und das Amt des Verteidigungsministers los und die Bundesregierung hat das geplante Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen doch noch nicht unterschrieben. Zuletzt war Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die den Vertrag zunächst verteidigt hatte, zurückgerudert. Der Druck aus dem Netz und durch massenhafte Proteste auf der Straße war zu groß geworden.

Keine Frage: Durch das Netz 2.0 haben sich die Politik und die Meinungsbildung verändert. Nichts anderes erkennt zunächst auch Wefing: „[Es] ist klar, dass sich gegen das Netz keine Politik mehr machen lässt. Jedenfalls nicht, wenn es um Netzthemen geht. Und schon gar nicht mit den herkömmlichen Mitteln: analog, per Presseerklärung und Fernsehinterview.“ Natürlich hat die Netzgemeinde nicht die Möglichkeiten eines Staates, sie hat keinen großen Lobbyismus und die Gelder sind begrenzt. Aber sie hat die Möglichkeit, nun, da durch Facebook, Twitter und Co. jeder seine Meinung der ganzen Welt kundtun kann, auf das Verhalten und Denken anderer Personen einzuwirken, indem ein Gefühl der Verbundenheit hergestellt wird. So funktionieren Soziale Netzwerke und so funktioniert das Mobilisieren von Massen. Kernkraftgegner haben sich Jahrzehnte an Eisenbahngleise ketten müssen, um etwas zu bewegen. Gegen Acta haben zwei Tage gereicht.

Was die starken Aktivitäten zeigen, ist vor allem aber auch, was die Gesellschaft tatsächlich bewegt. Wir leben in einem Land, das das allgemeine Gleichheitsgebot in Artikel 3 und die Meinungsfreiheit in Artikel 5 der Verfassung verankert hat. Die Grundordnung ist freiheitlich-demokratisch. Eine solche Gleichheit war bislang nicht denkbar, nun wird sie in gewisser Weise Realität. Die Politik und die Presse haben ihr Monopol nun auch abseits des Wahlkampfes verloren. Endlich!, mag man rufen. Und tatsächlich ist Kritik daran (fast) lediglich aus der Presse und Politik zu hören. Dabei ist es positiv, dass Politiker es mittlerweile schwerer haben, ihre Macht zu missbrauchen und abgegebene Versprechen direkt nach ihrer Wahl als Schnee von vorgestern wieder zu vergessen. Es ist positiv, dass jeder Politiker, jeder Journalist mehr gezwungen ist, sich über die Moral seines Handelns Gedanken zu machen. Es ist positiv, dass nicht mehr alles über die Köpfe der Bevölkerung hinweg entschieden werden kann.

 

Foto: Gerd Altmann / pixelio.de

 

Nicht die Petition ließ von der Leyen scheitern, sondern ihr eigenes Verhalten

Sicher, auch im anonymen Internet sollte jeder auf seinen Ton achten, die Würde des Einzelnen respektieren, unabhängig davon, ob man die Meinung des anderen teilt oder nicht. Dass dies nicht immer geschieht, ist schade. Dies müssen viele noch lernen, sowohl im virtuellen, wie im realen Leben. Und manche lernen es nie. Doch dies kann kein Grund sein, auch hitzige Netzdebatten und derartige „Shitstorms“, wie sie in der Vergangenheit vorkamen, in Zukunft unter allen Umständen zu unterbinden oder zu unterlassen. Bislang musste sich niemand fürchten, der eine ordentliche Politik macht, der hinter gewissen Werten steht, die sich auch in seinem Verhalten widerspiegeln und der für die Öffentlichkeit transparent ist. Wenn Guttenberg seine Doktorarbeit abschreibt, ist er des Doktortitels nicht würdig, so einfach ist das. Gut, dass es (viele) Menschen gibt, die sich angesichts solcher Tatsachen wehren. Von der Leyen missbrauchte das Thema Kinderpornographie für ihren Wahlkampf und forderte Stoppschilder. An sich eine ehrenwerte Sache, sich für Kinderschutz einzusetzen, dazu medienwirksam und aufmerksamkeitsbindend. Die konstruktive Forderung, solche Internetseiten zu löschen statt zu sperren, was durchaus möglich ist, ignorierte sie allerdings konsequent. Weiterhin sollte lediglich das BKA geheime Sperrlisten führen, die keiner rechtsstaatlichen Kontrolle unterworfen sind. Wo ist hier bitte die Gewaltenteilung? Sich dann zu wundern, dass der „Keine Zensur!“-Schrei laut ist, wenn Strukturen für eine allgemeine Inhaltskontrolle – gleich welchen Themas – geschaffen werden sollen, erscheint angesichts dessen zumindest verwunderlich. Es war nicht die „Onlinepetition, die innerhalb kürzester Zeit zehntausendfach geklickt wurde“, die von der Leyen scheitern ließ. Es war ihr eigenes egoistisches, ignorantes und anmaßendes Verhalten.

Auch Acta wurde bis zum Schluss hinter verschlossenen Türen verhandelt, geheim, abseits der Öffentlichkeit. Offenbar war einigen Entscheidungsträgern klar, dass ihr Vorhaben, das in das Leben von Millionen Menschen eingreift, zumindest umstritten sein würde. Daher hielten sie die Informationen bewusst zurück, womöglich in der Hoffnung, dass der öffentliche Protest zu langsam sein würde, um die Unterschrift des eigenen Staates zu verhindern. Unabhängig von dessen Inhalt, der auch für Kritik sorgen mag – allein dieses Vorgehen entbehrt jeder demokratischen Grundlage.

Vor fünf Jahren wäre das Abkommen einfach unterschrieben und den Bürgern vorgesetzt worden. Nun hat die Bevölkerung ein Mitspracherecht, auch ohne aktives Zutun von Politkern wie bei Volksabstimmungen. Kommunikation funktioniert nun auch von unten nach oben. Das hat das Land wieder etwas demokratischer gemacht. Und politischer.

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Der Fall Wulff – Rechtsweg ausgeschlossen

Mit den Worten „Inhaltsfreier, würdeloser Bundespräsidentendarstellerazubi“ wird zur aktuellen Stunde vor dem Schloss Bellevue gegen unser Staatsoberhaupt gewettert. Unter dem Motto „Wulff den Schuh zeigen“ hat hier nach arabischem Vorbild jeder die Möglichkeit, Herrn Wulff seine persönliche Missachtung zum Ausdruck zu bringen. Zwar mag das verfassungskonform sein, doch der Sinn erschließt sich nicht so recht. Weshalb wird hier demonstriert? Wie berechtigt sind diese Demonstrationen? Ein Kommentar

Im Jahr 2009 lief ein ganzes Dorf Sturm: Ein Vergewaltiger, der sich nach verbüßter Haftstrafe in Heinsberg bei Aaachen niedergelassen hatte, um ein neues Leben zu beginnen, wurde „Opfer“ einer Kampagne der Bürger gegen ihn. Bemalte Plakate und Bettlaken wurden hoch gehalten und sein Gesicht konnte er in den umliegenden Geschäften und an Bushaltestellen begutachten. Während hier noch „zugute“ gehalten werden könnte, dass der Herr ja tatsächlich verurteilter Straftäter war, ist dies bei Herrn Wulff nicht der Fall. Zwar ist dies vielfach von Vertretern aus Politik, Presse und Wirtschaft zu hören, doch Christian Wulff hat sich (noch) nicht strafbar gemacht. Bis zur endgültigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung. Wer also meint, Herr Wulff habe sich in irgendeiner Weise strafbar gemacht, hat selbstverständlich die Möglichkeit, gegen diesen Strafanzeige zu erstatten. Darüber hinaus können der Bundesrat und Bundestag eine Präsidentenanklage vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen. Doch weil das alles sehr mühsam ist, lange dauert und vermutlich kaum von Erfolg gekrönt sein wird, kann man sich natürlich auch auf seine Pressefreiheit bzw. sein Versammlungsrecht berufen und selbst ein Urteil fällen: Wenigstens moralisch hat Wulff sich „strafbar“ gemacht, auf jeden Fall muss er daher zurücktreten. Und wenn nicht das, ist er Bundespräsident auf Bewährung. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, das Urteil ist gesprochen.

In was für einem Land leben wir eigentlich, mag so mancher Bürger denken und sich dabei die Haare raufen. Hat ein Bundespräsident, der so vehement auf sein Persönlichkeitsrecht pocht wie Herr Wulff, überhaupt eine Chance, zu bestehen? Sollte dies zutreffen, dass die BILD beabsichtigte, höchst persönliche und intime Details über Wulffs Privatleben zu veröffentlichen – was nun wirklich nicht das erste Mal in der Geschichte dieses Verlages wäre – wäre es absolut in Ordnung, wenn dieser versucht, das zu unterbinden. Auch die Presse hat persönliche Grenzen zu achten. Tut sie das nicht, kann ein Strafantrag folgen, und die Ankündigung eines Strafantrages ist keine Drohung. Das ist das gute Recht eines jeden Staatsbürgers. Dass er darüber hinaus im Vorhinein versucht, eine solche Berichterstattung, die seine Privatsphäre tief verletzt, zu verhindern, ist ebenfalls in Ordnung. Genau dies wird Wulff aber wiederum zum Verhängnis: Von einer Missachtung der Meinungs- und Pressefreiheit ist die Rede. Und wie könne der oberste Mann unseres Staates, der nicht einmal das Grundgesetz achtet, denn noch länger im Amt bleiben? Egal wie Wulff sich verhält, es ist fast aussichtslos und er kann es nur falsch machen. Wer Böses im Sinn hat, kann dies ein bisschen als Kochrezept für die Entfernung ungeliebter Politiker begreifen: Eine Prise zu persönliche Berichterstattung, ein Esslöffel Verhinderung der Veröffentlichung, ein Schuss „Aber meine Grundrechte!!!“ und schon haben wir den Salat. So wichtig die Rolle der Medien in der Demokratie auch sein mag, so viel Macht dürfen sie nicht haben. Doch genau diese Macht nehmen sich manche einfach, und ob man die BILD hier guten Gewissens ausnehmen darf, bleibt zu bezweifeln.

 

Was in den Medien nicht existiert, gibt es nicht

Dazu kommt ein Effekt, der in unserem Land leider weit verbreitet ist und immer wieder und zu Recht zu Unmut bei betroffenen Beteiligten führt: Ein Problem, das in den Medien nicht existiert, gibt es nicht. Dementsprechend gibt es nur, was in den Medien bzw. weiter gefasst im öffentlichen Bewusstsein existiert. Dies kann man sich zwar zunutze machen, doch kann auch zum Verhängnis werden. Und dort liegt auch die starke Parallele zwischen der Anti-Vergewaltiger- und der Anti-Wulff-Demo. Wenn einer anfängt, einen Stein zu werfen, machen alle mit. Nicht selten führt das fast zu Pogromstimmung, begründet durch die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, wie in diesen beiden Fällen. Wulff befindet sich in einem Kreuzverhör, das teilweise an Absurdität kaum zu überbieten ist. Kostenlose Übernachtungen bei Freunden werden ihm negativ vorgehalten. Er hat plötzlich Fragen zu beantworten, wer seine erste Hochzeit bezahlt hat und wer seine zweite, ob er Unterhalt für seine Mutter bezahlt hat und welche Kleider seiner Frau geliehen waren. Beantwortet er sie nicht, hat er selbstverständlich etwas zu verheimlichen. Nun würde sogar der ein oder andere Wulff-Kritiker einsehen, dass letztere Fragen lächerlich und zu privat sind. Doch wer entscheidet, was Wulff der Öffentlichkeit preisgeben muss und was nicht? Schon scheiden sich wieder die Geister und der Willkür sind einmal mehr Tür und Tor geöffnet.

Dabei könnte dies jedem Politiker „passieren“, ob berechtigt oder nicht. Auf die gleiche Art und Weise wurden Horst Köhler und Karl-Theodor zu Guttenberg aus dem Amt befördert, und genauso könnte man beispielsweise mit Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Guido Westerwelle verfahren. Es ist nicht so wichtig, ob sich nun jemand etwas zu Schulden hat kommen lassen oder nicht, der Anschein genügt. Und der Anschein kann auch einfach medial hergestellt sein. Da kann sich fast glücklich schätzen, wer gerade nicht negativ im Mittelpunkt der Medien steht. Denn was in den Medien nicht existiert, gibt es nicht.

 

Peinlich für das ganze Land

Es mag sein, dass es auch Herr Wulff nicht immer 100 % genau mit der Legalität oder – weil es darum ja eigentlich geht – Legitimität genommen hat. Es mag sein, dass der Anruf bei Herrn Diekmann irgendwie dumm und ungeschickt war. Und es mag sein, dass nicht jeder mit allem einverstanden ist, was er tut und getan hat. Doch wer ernst zu nehmende Einwände gegen Herrn Wulff als Bundespräsident, Politiker oder einfach nur Mensch hat, kann das Gericht anrufen. Dies steht jedem frei. Dies ist die angemessene Art und Weise, in einem Rechtsstaat, der die Würde des Menschen als höchstes Rechtsgut im Grundgesetz verankert hat, mit möglichen Rechtsverstößen umzugehen. Das derzeitige Vorgehen jedenfalls ist peinlich, nicht nur für Christian Wulff und Kai Diekmann, sondern für das ganze Land.

Vielleicht sollten wir uns endlich mal wieder Themen widmen, die wirklich wichtig für unser Land sind. Weihnachten ist zwar schon ewig, aber erst zwei Wochen her. Damals sagte Wulff selbst, was wichtig ist: „Europa ist unsere gemeinsame Heimat und unser kostbares Erbe. Es steht für die großen Werte der Freiheit, der Menschenrechte und der sozialen Sicherheit. … In unserem Land gibt es aber keinen Platz für Fremdenhass, Gewalt und politischen Extremismus. … Wir schulden uns allen Wachsamkeit und die Bereitschaft, für unsere Demokratie und das Leben und die Freiheit der Menschen in unserem Land einzustehen.“ Dies gilt nicht nur für den Umgang mit den Taten der Zwickauer Terrorzelle, sondern auch mit den Persönlichkeitsrechten unserer Mitmenschen. Egal, ob dies nun den Partner, den Nachbarn oder eben den Bundespräsidenten betrifft. Das fängt im Alltag und Kleinen an und hängt von jedem einzelnen ab.

 

Titelbild: (c) Gerd Altmann / pixelio.de