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Der Fall Wulff – Rechtsweg ausgeschlossen

Mit den Worten „Inhaltsfreier, würdeloser Bundespräsidentendarstellerazubi“ wird zur aktuellen Stunde vor dem Schloss Bellevue gegen unser Staatsoberhaupt gewettert. Unter dem Motto „Wulff den Schuh zeigen“ hat hier nach arabischem Vorbild jeder die Möglichkeit, Herrn Wulff seine persönliche Missachtung zum Ausdruck zu bringen. Zwar mag das verfassungskonform sein, doch der Sinn erschließt sich nicht so recht. Weshalb wird hier demonstriert? Wie berechtigt sind diese Demonstrationen? Ein Kommentar

Im Jahr 2009 lief ein ganzes Dorf Sturm: Ein Vergewaltiger, der sich nach verbüßter Haftstrafe in Heinsberg bei Aaachen niedergelassen hatte, um ein neues Leben zu beginnen, wurde „Opfer“ einer Kampagne der Bürger gegen ihn. Bemalte Plakate und Bettlaken wurden hoch gehalten und sein Gesicht konnte er in den umliegenden Geschäften und an Bushaltestellen begutachten. Während hier noch „zugute“ gehalten werden könnte, dass der Herr ja tatsächlich verurteilter Straftäter war, ist dies bei Herrn Wulff nicht der Fall. Zwar ist dies vielfach von Vertretern aus Politik, Presse und Wirtschaft zu hören, doch Christian Wulff hat sich (noch) nicht strafbar gemacht. Bis zur endgültigen Verurteilung gilt die Unschuldsvermutung. Wer also meint, Herr Wulff habe sich in irgendeiner Weise strafbar gemacht, hat selbstverständlich die Möglichkeit, gegen diesen Strafanzeige zu erstatten. Darüber hinaus können der Bundesrat und Bundestag eine Präsidentenanklage vor dem Bundesverfassungsgericht anstrengen. Doch weil das alles sehr mühsam ist, lange dauert und vermutlich kaum von Erfolg gekrönt sein wird, kann man sich natürlich auch auf seine Pressefreiheit bzw. sein Versammlungsrecht berufen und selbst ein Urteil fällen: Wenigstens moralisch hat Wulff sich „strafbar“ gemacht, auf jeden Fall muss er daher zurücktreten. Und wenn nicht das, ist er Bundespräsident auf Bewährung. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen, das Urteil ist gesprochen.

In was für einem Land leben wir eigentlich, mag so mancher Bürger denken und sich dabei die Haare raufen. Hat ein Bundespräsident, der so vehement auf sein Persönlichkeitsrecht pocht wie Herr Wulff, überhaupt eine Chance, zu bestehen? Sollte dies zutreffen, dass die BILD beabsichtigte, höchst persönliche und intime Details über Wulffs Privatleben zu veröffentlichen – was nun wirklich nicht das erste Mal in der Geschichte dieses Verlages wäre – wäre es absolut in Ordnung, wenn dieser versucht, das zu unterbinden. Auch die Presse hat persönliche Grenzen zu achten. Tut sie das nicht, kann ein Strafantrag folgen, und die Ankündigung eines Strafantrages ist keine Drohung. Das ist das gute Recht eines jeden Staatsbürgers. Dass er darüber hinaus im Vorhinein versucht, eine solche Berichterstattung, die seine Privatsphäre tief verletzt, zu verhindern, ist ebenfalls in Ordnung. Genau dies wird Wulff aber wiederum zum Verhängnis: Von einer Missachtung der Meinungs- und Pressefreiheit ist die Rede. Und wie könne der oberste Mann unseres Staates, der nicht einmal das Grundgesetz achtet, denn noch länger im Amt bleiben? Egal wie Wulff sich verhält, es ist fast aussichtslos und er kann es nur falsch machen. Wer Böses im Sinn hat, kann dies ein bisschen als Kochrezept für die Entfernung ungeliebter Politiker begreifen: Eine Prise zu persönliche Berichterstattung, ein Esslöffel Verhinderung der Veröffentlichung, ein Schuss „Aber meine Grundrechte!!!“ und schon haben wir den Salat. So wichtig die Rolle der Medien in der Demokratie auch sein mag, so viel Macht dürfen sie nicht haben. Doch genau diese Macht nehmen sich manche einfach, und ob man die BILD hier guten Gewissens ausnehmen darf, bleibt zu bezweifeln.

 

Was in den Medien nicht existiert, gibt es nicht

Dazu kommt ein Effekt, der in unserem Land leider weit verbreitet ist und immer wieder und zu Recht zu Unmut bei betroffenen Beteiligten führt: Ein Problem, das in den Medien nicht existiert, gibt es nicht. Dementsprechend gibt es nur, was in den Medien bzw. weiter gefasst im öffentlichen Bewusstsein existiert. Dies kann man sich zwar zunutze machen, doch kann auch zum Verhängnis werden. Und dort liegt auch die starke Parallele zwischen der Anti-Vergewaltiger- und der Anti-Wulff-Demo. Wenn einer anfängt, einen Stein zu werfen, machen alle mit. Nicht selten führt das fast zu Pogromstimmung, begründet durch die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, wie in diesen beiden Fällen. Wulff befindet sich in einem Kreuzverhör, das teilweise an Absurdität kaum zu überbieten ist. Kostenlose Übernachtungen bei Freunden werden ihm negativ vorgehalten. Er hat plötzlich Fragen zu beantworten, wer seine erste Hochzeit bezahlt hat und wer seine zweite, ob er Unterhalt für seine Mutter bezahlt hat und welche Kleider seiner Frau geliehen waren. Beantwortet er sie nicht, hat er selbstverständlich etwas zu verheimlichen. Nun würde sogar der ein oder andere Wulff-Kritiker einsehen, dass letztere Fragen lächerlich und zu privat sind. Doch wer entscheidet, was Wulff der Öffentlichkeit preisgeben muss und was nicht? Schon scheiden sich wieder die Geister und der Willkür sind einmal mehr Tür und Tor geöffnet.

Dabei könnte dies jedem Politiker „passieren“, ob berechtigt oder nicht. Auf die gleiche Art und Weise wurden Horst Köhler und Karl-Theodor zu Guttenberg aus dem Amt befördert, und genauso könnte man beispielsweise mit Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier und Guido Westerwelle verfahren. Es ist nicht so wichtig, ob sich nun jemand etwas zu Schulden hat kommen lassen oder nicht, der Anschein genügt. Und der Anschein kann auch einfach medial hergestellt sein. Da kann sich fast glücklich schätzen, wer gerade nicht negativ im Mittelpunkt der Medien steht. Denn was in den Medien nicht existiert, gibt es nicht.

 

Peinlich für das ganze Land

Es mag sein, dass es auch Herr Wulff nicht immer 100 % genau mit der Legalität oder – weil es darum ja eigentlich geht – Legitimität genommen hat. Es mag sein, dass der Anruf bei Herrn Diekmann irgendwie dumm und ungeschickt war. Und es mag sein, dass nicht jeder mit allem einverstanden ist, was er tut und getan hat. Doch wer ernst zu nehmende Einwände gegen Herrn Wulff als Bundespräsident, Politiker oder einfach nur Mensch hat, kann das Gericht anrufen. Dies steht jedem frei. Dies ist die angemessene Art und Weise, in einem Rechtsstaat, der die Würde des Menschen als höchstes Rechtsgut im Grundgesetz verankert hat, mit möglichen Rechtsverstößen umzugehen. Das derzeitige Vorgehen jedenfalls ist peinlich, nicht nur für Christian Wulff und Kai Diekmann, sondern für das ganze Land.

Vielleicht sollten wir uns endlich mal wieder Themen widmen, die wirklich wichtig für unser Land sind. Weihnachten ist zwar schon ewig, aber erst zwei Wochen her. Damals sagte Wulff selbst, was wichtig ist: „Europa ist unsere gemeinsame Heimat und unser kostbares Erbe. Es steht für die großen Werte der Freiheit, der Menschenrechte und der sozialen Sicherheit. … In unserem Land gibt es aber keinen Platz für Fremdenhass, Gewalt und politischen Extremismus. … Wir schulden uns allen Wachsamkeit und die Bereitschaft, für unsere Demokratie und das Leben und die Freiheit der Menschen in unserem Land einzustehen.“ Dies gilt nicht nur für den Umgang mit den Taten der Zwickauer Terrorzelle, sondern auch mit den Persönlichkeitsrechten unserer Mitmenschen. Egal, ob dies nun den Partner, den Nachbarn oder eben den Bundespräsidenten betrifft. Das fängt im Alltag und Kleinen an und hängt von jedem einzelnen ab.

 

Titelbild: (c) Gerd Altmann / pixelio.de